Das Gesundheitssystem und ich

Nun bin ich ein halbes Jahrhundert, wie meine Töchter und meine Kollegin mich nennen. Aber bald bin ich das nicht mehr, bald bin ich ein halbes Jahrhundert +.

Also. Wenn man so alt ist, wie ich, dann geht man nicht mehr gleich zum Arzt. Die Zupper-  und Zipperlein, was richtig kaputt ist, weiß man durch vorher gehende Arztbesuche und das Meiste geht ja eh wieder weg, da braucht man sein bischen Lebenszeit nicht in einem Wartezimmer zu verbringen mit alten Zeitungen und vielen alten Leuten ab 50++ und vielen Zupper- und Zipperlein. In meinem Alter hat man eine Hausapotheke und eine Stammapotheke. Die Hausapotheke ist eingerichtet auf alles, was schmerzt und zuppt und zippt, kann Fieber in allen Alterklassen behandeln, Husten und Schnodder und mit kleinen und großen Tricks aus Ommas Trickskiste ist vieles im Anfang schon aufzuhalten mit Homöopathie und Phytotherapie.

Nunja, und dann traf mich ein Fall von „Geht nicht weg – vielleicht doch mal Arzt.“, der sich dann entwickelte zu „Doch Arzt.“

Mein rechtes Knie war aus Gründen, die nur es selbst kennt, dick geworfen, anfangs mit heiß und aua, später nur noch mit dick und aua und meine Familie bejängelte mich täglich mehrfach, doch endlich mal einen Arzt aufzusuchen.

Ich versprach auch, dieses zu tun, sobald ich dazu Zeit hätte.

Also habe ich letzte Woche Montag bei meinem Hausarzt angerufen, um vorbei kommen zu können. Bei 30ten Mal kam ich durch und durfte um halb elf kommen. Ja, 29 Mal habe ich angerufen und bin nicht durchgekommen.

Nun ich also zum Hausarzt und erkläre ihm, dass das rechte Knie dick ist.

Er sitzt hinter seinem Schreibtisch, ich davor. Er tippselt in seinen Recher.

„Das ist Verschleiß. Da hilft eh nix.“

„Ja, aber ich muss damit arbeiten. Es muss doch was geben! Eine Salbe, eine Creme, irgendwas…“

„Diclofenac….“

„Die habe ich doch schon zuhause, die Salbe. Die hilft nicht. Und Pferdesalbe auch nicht…“

Er druckt mir einen Überweisung zum Orthopäden aus. Ich könne gleich nach nebenan gehen, dass sei ihm egal.

Ich gehe also in die Praxis nach nebenan und bekomme einen ganz schnellen Termin….am 8.11., aber immerhin 2017.

Ich gehe weiter arbeiten, futtere Ibuprofen wie Bonbons und starte doch noch einen Versuch und rufe einen anderen Orthopäden an.

Ich kann tags drauf, also am Donnerstag um 17.30 Uhr vorbei kommen. Super. Genau während meiner Arbeitszeit. Was die Frage aufwirft, warum man eigentlich immer solche Termine während der Arbeitszeit bekommt, zumal ich ja auch schon anders gearbeitet habe und da auch das Phänomen „Während der Arbeit “ erlebt habe.

Ich also zum Orthopäden. Eine Putzstelle liegt schon hinter mir und ich hätte doch gerne noch mal geduscht, aber…deshalb entschuldige ich mich in der Hochglanzpraxis bei der Hochglanzemfangsdame hinter dem Thresen.

Sie nimmt meinen Überweiser, meine Krankenkarte und fragt mich, ob ich damit einverstanden bin geröngt zu werden.

„Klar, wenn das nötig ist, dann schon.“

Ich solle im Wartezimmer warten. Neben mir sitzt eine blonde Frau mit Kind. Ein Mann kommt während meiner Wartezeit auf sie zugehinkt. Sie hilft ihm vorsichtig in den Schuh.

„Und was jetzt?“ will sie von ihm wissen.

„MRT und dann wieder her.“

Ich werde aufgerufen und denke, jetzt geht es zum Doc.

Ich werden zum Röntgen umgeleitet und das Knie wird zweimal geröngt. Das Dicke der beiden wohlgemerkt. So klassisch, nicht modern über den Computer, sondern mit den Bildern, die noch entwickelt werden müssen.

Dann soll ich mich vor den Thresen stellen und dort warten, weil es gleich weiter gehen würde.

Aha.

Geht auch gleich weiter. Ich werde in ein Hochglanz-Arztzimmer in Rot-Tönen gesetzt. Und nach dem „Der Doktor kommt gleich.“ kommt von der Hochglanz-Helferin ein „Ich bringe mal gleich das Ultraschall -Gerät“

Der Doktor kommt, will wissen, warum ich komme und als was ich arbeite.

Ich weise auf das Knie( Ich trage zum Putzen im so knielange Sommerhosen) und erkläre ihm, dass ich Putzfrau und Hausfrau bin.

Ich soll mich auf die im Raum befindliche Liege legen.

Er kommt rum.

„Ein X-Bein.“

*Jo. Und?*

Er guckt sich das Knie an, nimmt den Unterschenkel und bewegt das Ganze.

„Da ist Flüssigkeit drin. Viel.“

*Ernsthaft?*

„Da ist was nicht in Ordnung drin!“

*Echt? Echt jetzt?*

Er macht einen Klacks von dem Ultraschallgel drauf, setzt einmal den Ultraschall-Kopf auf, nimmt ihn gleich wieder runter und wischt das Geschmadder fort.

Und ich denke: Jetzt kommt es. Die Super-Schmiere, die Mega-Tablette, die das wieder in Ordnung bringt.

Ich bekomme eine Überweisung zum MRT.

Also esse ich weiter Ibu wie Bonbons und hole mir Montag einen MRT-Termin bei Dr. F. im Goslarer Krankenhaus, denn zu dem hat mich der Orthopäde geschickt. Und derweil gehe ich weiter Putzen, trepp auf und trepp ab.

Abends ist das Knie akkerat bewegungseingeschränkt.

Gott sei Dank ist es mir schon einmal zu Verhängnis geworden. Ich bin nachts wach geworden wegen Auaaaaaa. Und wollte so gern Haferflocken mit heißer Milch. Und beides war im Vorratskeller. Ich also runter. Runter ist keine Sache. Aber beim Rauf muss man aufpassen mit der eingeschränkten Bewegungsfähigkeit des Knies. Hab ich im Halbschlaf nachts um halb drei vergessen. Und zack, bleibe ich mit dem rechten Fuß an der Stufe hängen, beginne nach hinten zu fallen, ziehe mich am Geländer nach vor und krache auf die letzten oberen drei Kellerstufen, mit den Schienbeinen auf die Eisenkante von Stufe drei und den Unterarmen auf die Schwelle im Erdgeschoß.

Aus der Familie hat mich keiner schmerzhaft atmen hören…..Jetzt habe ich zwar jeweils einen schmerzhaften Hubbel am Schienbein, aber das Knie ist schon viel viel besser geworden. Es wird zwar immer noch dick, aber dieses Scheuern hinter der Knei-Scheibe ist weg. Ich möchte trotzdem nicht noch mal fallen, so ganz ehrlich gesagt. Ich bin auch froh, dass Ärzte niemanden die Treppe hoch schubsen. Hoffentlich jedenfalls.

Omma hat mich nur gefragt, ob man sich nicht verarscht fühlt, wenn man mit sowas zum Arzt geht und das läuft dann so ab.

„Ja, tut man. Und deshalb habe ich auch das Hausarztmodell gekündigt.“

Wahltag

Ich bin eingefleischter Nichtwähler. Doch nach allen Ereignissen der letzten Tage, Wochen, Monate und Jahre, da saßen C. und ich zusammen und stellten fest: Auch ich muss wählen gehen.

C . wählt jedesmal ordnungsgemäß per Briefwahl, damit sich jeder, den es hier im Haushalt interessiert, sich schon mal einen Überblick über den Wahlzettel verschaffen kann.

C. und ich sprachen also über die Wahl.

„Ja, aber was soll man denn wählen? Was soll ICH wählen?“ wollte ich wissen. Ich, der unpolitischste Mensch auf weiter Flur. Wie oder was oder, besser, wen sollte ich wählen?

Auch C. wußte nicht, was er wählen sollte. Nur zwei Dinge waren sicher:

AfD schon mal auf gar keinen Fall. Nicht nur wegen der Petry.  Und esoterischen Kram mit ’nem lila Schmetterling und der Forderung, die Raumenergie zu erschließen und zu nutzen, sowas nun mal auch nicht. Und weiter rechts  von der AfD auch nicht.

FDP, so sagte C., so habe sein Vater immer gesagt, das sei nur was für Reiche und Unternehmer. Hatten meine Eltern auch immer gesagt, also…FDP war damit raus.

Ich brachte einen Flyer der Deutschen Mitte ( DM) mit, obwohl ich schon den Namen , nunja, also so meins isses nich….Wir haben das gelesen, was die da machen wollen, aber schon einmal lesen, kurz besprechen auf dem Weg zum Wochenend-Einkauf im Auto  zum Kaufland, also knappe 5 Minuten, reichten, um zu sagen: Datt isses nich‘!

Und so saßen C. und ich da und wußten nicht, was wir wählen wollten. C. , ganz Informatiker, machte das Internet auf, als es den Wohlomaten noch nicht gab, und fand etwas Vergleichbares, allerdings wurde man in diesem Wahlomaten zu schon getroffenen Gesetzesentscheidungen befragt und wir machten das beide und es kam raus:

Links.

„C., ich bin doch nicht links!!“ Empörung pur.

„Nach dem Ding bin ich zu 54 Prozent auch links.“

Ich guckte an C. rauf und runter.

„Du und links! Das ich nicht lache….wieviel links bin ich denn?“

„71 Prozent.“

Aha.

„Und was machen wir jetzt?“

„Wir wählen das.“

Aha.

Ich mag überhaupt nix wählen. Gar nichts. Ich bin da noch nie gewesen und will da auch nicht hin.

Die Wochen liefen ins Land und C. probierte den Wahlomat, den richtigen, der ihm sagte, er solle CDU wählen.

„Und machste das?“

„Näh!“ Sowohl Links als auch CDU, das war irgendwie….nun ja.

Wenn wir gemeinsam im Auto saßen, sprachen wir über die Wahlplakete und deren Inhalt.

„C., guck mal, das sind doch nur Phrasen. Es ist Zeit….“ Ich zeigte auf ein großes Schulz-Plakat. „Für was isses denn Zeit? Für Mittag? Abendbrot? Drunter steht klein „für soziale Gerechtigkeit“. Dass gibt es doch gar nicht.“

Der Lindner wirkte auf mich wie das männliche Pondont eines Viktoria -Secret-Modells.

Und C. und ich freuten uns ungemein, daß sich irgendwer unserer erbarmt hatte, und alle NPD-Plakate auf dem Weg zu den Schulen von Laternen gekloppt hatte.

Luther würde NPD wählen, stand da. Luther ist tot, Hitler ist tot, die NPD leider noch nicht, aber die Dummen sterben ja eh nicht aus. Und als jemand, der aus einer Familie von Generationen Lutheraner stammt, Freunde, da mochte ich das überhaupt nicht, was die NPD da behauptete. Habe ich mich jedesmal drüber aufgeregt.

Im Fernsehen sah ich nicht nur dauernd irgendwelche Diskussionen von Politikern, Satirikern, Werbespots von Parteien, sondern ich sah den EINEN Werbespot.

Da waren Leute, die sagten, sie wollten, das alle ein Dach über dem Kopf haben, in unserem Land, das Kinder nicht mehr in Armut aufwachsen sollten, in unserem Land, das alte Leute nicht mehr in Armut leben sollen sollten, in unserem Land….und noch einiges mehr, was ich auch gut fand für unser Land. Ja, auch Integration oder wie auch immer, ich mag’s bunt.

Und ich dachte mir: „Datt isse, die kann ich wählen!!“ Erleichterung pur und Erwartung des Namens der Partei dieses Werbespots….und dann kam nur „Geh wählen!“. Nein, ich habe im Wahllokal nicht gefragt, wo denn die „Geh wählen“-Partei auf dem Wahlzettel zu finden ist, aber es wäre ein schöner Name für eine neue Partei, die vielleicht genau all diese Punkte mal in ihr Wahlprogramm aufnimmt.

 

C. Briefwahlzettel verschwand von der Magnet-Wand.

Der Wahlsonntag kam.  Die Kinder hatten gefrühstückt. Die Küche war aufgeräumt, die Waschmaschine lief, die Übernachtungskinder wurden abgeholt.

Ich machte das, wie ich das als Kind von meiner Mutter gesehen hatte. Nicht ganz so. Das Sonntagskleid hielt ich für overdressed und ein Gesicht aufgemalt habe ich mir auch nicht, aber ich habe gründlich geduscht und mir ebenso gründlich die Zähne geputzt.

Am Vorabend hatte ich schon die Wahlbenachrichtigung raus gesucht und kontrolliert, das mein Ausweis auch noch gültig war. Man wollte ja nicht doof da stehen.

Auf der Wahlbenachrichtigung stand, dass ich zur Feuerwehr nach schräg gegenüber musste, meinte ich, aber als ich die Hausnummer der Straße las, habe ich doch lieber das Navi eingeschaltet und standesgemäß das Auto genommen, obwohl in Olhof alle zu Fuß da hin sind. Aber ich bin ja nicht Olhof.

Im Wahllokal bekam ich meinen Zettel und nahm eine der beiden Wahlkabinen.

Ich guckte mir den Zettel an und fand die Linke nicht. Panik.  Ruhig bleiben. Einfach ruhig bleiben. Die muss doch da irgendwo sein. Aber Hauptsache die blöde AfD ist da drauf…..Ich habe sie dann doch gefunden und mein Kreuzchen gemacht.

Zweit-Stimme???? Panik brach aus und ich war versucht, mein Handy rauszuholen, um C. zu fragen, was ich denn mit der zweiten Stimme machen sollte. Ich hab‘ da einfach  noch mal dasselbe angekreuzt. Ich kenn die doch alle gar nicht.

Dann wußte ich nicht, wie man den Wahlzettel ordentlich zusammen faltet, habe das aber einfach auf Brief-Umschlagsgröße gemacht, mittig noch mal gefaltet und, bevor ich das Papier in die Urne geworfen habe, habe ich noch mal gefragt, ob das da rein muss. War aber richtig.

Für das erste Mal wählen fand ich mich gut. Aber jeden Tag möchte ich das nicht machen.

Und seit ich den Zettel da reingeworfen habe, da würde ich gerne noch mal fragen, ob ich noch mal auf meinen Zettel gucken kann, ob ich das auch alles richtig gemacht hab.

Maaaaaaan.

Und dann kam 18 Uhr und kurz drauf die ersten Prognosen. C. und Mal zockten und ich lief dauernd rüber, völlig schockiert, dass die AfD mit der Petry Frauke und deren Ferdinand jetzt im Bundestag sind.

„Die haben 87 Sitze!!!“

„Was??“ C. redet sonst nie mit mir , wenn er zockt.

„Die AfD hat 87 Sitze im Bundestag !“ Und C. unterbrach und wir sahen und hörten den Schulz im Fernsehen sprechen und sind der SPD echt dankbar, dass sie die Opposition wählen.

Mir ist immer noch schlecht ob dieses Ergebnisses, aber C. sagte, das Schwarz-Gelb-Grün, dass das keine so einfache Sache sei, das der Schulz das gut gemacht hat, weil damit nicht mehr die AfD die stärkste Oppositionspartei sei und somit auch keine Ämter bekomme, und das die Verhandlungen bei Schwarz-Gelb-Grün wohl bis nach Weihnachten gehen werden und er so denke, dass man ja nicht wisse, ob die das vier Jahre lang durchhalten….

 

„Eigentlich will ich nicht bei Euch wohnen…“

Selma ist vier Jahre alt und sitzt auf dem Rücksitz meines Autos. Wir sind auf dem Rückweg des Sommerfestes für Pflege-Eltern.

*Pflege-Eltern nehmen solche Leute wie C. und micht nicht ernst. „DAS ist ja  nur Verwandtenpflege!“ ist ein oft fallender Satz. Abwertend, geringschätzig, ohne zu erahnen, wieviel Arbeit an sich selbst nötig ist, um zu differenzieren. Und das macht man nebenbei den ganzen Tag.*

Selma hatte nach einer Unterbrechung von sechs Wochen Umgang mit Mama.

Nein, Selma will nicht bei uns wohnen. Und es hilft auch nicht, dass ich ihr sage, dass das völlig normal ist, weil jeder lieber bei Mama und Papa wohnt.

Sie hat eine sog. regressive Phase, schwer, laut und auch handgreiflich den anderen gegenüber. Provokant, wie auch immer.

Patty hat ihre Fortschritte nicht völlig verloren, gibt aber wieder die Kopie von Selma und jeder Informatiker wäre verwundert, wie schnell ein Mensch Gesten und Worte kopieren kann, wenn er Patty neben irgendwem anders sieht.

Pflege-Eltern sein ist, so finde ich, keine einfache Hausnummer. Man weiß sehr genau, dass es richtiger ist, wenn Kinder bei ihren Eltern aufwachsen. Es fühlt sich einfach richtiger an. Ich kann uns schon als Pflege-Eltern bezeichnen, denn von zwei-dreimal sehen in den ersten Lebensjahren der Mädels kann man nicht von einer Oma-Opa-Enkel-Beziehung sprechen.

So. Und dann kommt also so ein Kind in die eigene Familie. Bei uns sind es zwei, also ist eine Familie in unsere Familie gezogen.

Und sie sind ganz anders als das eigene Kind. Nein, sie können mit Museumsbesuchen nichts anfangen, wollen lieber essen oder auf den Spielplatz, wo durchaus die Große mal die Kleine vom Gerüst schubst.

Und du arbeitest. An Dir selbst, mit Deiner Familie, mit der kleinen Familie, denn die einzige Chance ist, dass beide Familien sich aufeinander zu bewegen. Auch meine Familie, die mir da schwerfällig wie ein Ozeandampfer vorkommt, auf die kleine Familie, die bei uns einzgezogen ist.

„Eigentlich will ich gar nicht bei Euch wohnen.“ Ganz freundlich, wohlwollend kommt das Stimmchen vom Rücksitz.

Und die Mädchen haben sich entwickelt. Selma kann sehr sanft sein. Sie steht nicht mehr morgens auf und durch das Haus schallt ihr „Oooooooomaaaaaaa.“ wie die Dauerschleife einer Lautsprecher-Ansage. Sie muss nicht mehr alle schlagen, anspucken, kneifen, treten, bestehlen.

Patty, das im silbentakt lautierende Kind, spricht ganze Sätze. Noch nicht ganz sauber, aber von dem Verdacht einer geistigen Behinderung ist sie erstmal meilenweit entfernt und kann im Regelkindergarten bleiben.

Es muss Platz sein für Entwicklung. Es muss einfach Platz sein. Weniger nicht.

Am Anfang der Pflegerei war ich der festen Überzeugung, ich könnte Rituale und Verhaltensweisen anlegen, die es der Mutter einfacher machen würden. Aber ich habe das Fachbuch an die Seite geschmissen, als ich gelesen habe, das Verhalten Beziehungsbezogen ist, was im Umkehrschluß bedeutet, die Mama muss, wenn die Kinder wieder bei ihr sind, daran arbeiten, dass sich deren Verhalten im Umgang mit ihr ändert.

Eine herbe Enttäuschung, diese Erkenntnis. Und weiter gemacht.

Und nun siehst Du, wie sich diese Kindern entwickeln. Selma malt, Patty spricht. Sie singen, sie tanzen und sind im Kindergarten. Ich gehe abends putzen, die Müllwerkerduschen und Toiletten, weil C. dann von der Arbeit zuhause ist und immer einer von uns da.

C.s Mutter sagte, dass diese Kinder ungeliebte Kinder sind, weil ihnen die elterliche Liebe fehlt. Ungeliebt würde ich nicht sagen, aber die Liebe von Mama und Papa kann gar keiner ersetzen.

Du lernst, dass die Krisen, die diese Kinder durchmachen, denen der Erwachsenen überhaupt nicht unähnlich sind und tröstest die Untröstlichen.

Und dann plant die Mama, dann und dann die Kinder wieder zu sich zu nehmen. Und obwohl in diesem einen Jahr ganz viel bei den Kindern passiert ist, ganz viel entwickelt ist, ist bei den Eltern nicht viel passiert. Also viel schon, aber nicht in die Richtung, in die es sollte, damit die Kinder wieder zu ihnen können.

Als das bei uns kam, hatte ich Bauchschmerzen. Ich konnte nicht essen, konnte nichts formulieren. Ich bin in das Gespräch gegangen und war so verzückt von der Entwicklung der beiden Mädchen und dann –  Bämm!

Aber sie ist die Mutter. Und ich fühlte mich schlecht, weil ich mich schlecht fühlte, die Mädels wieder zur Mutter zu geben. Ja. Sie plante das in einem Jahr, aber in einem Jahr, was da wohl sein würde? Aus der jetzigen Situation heraus – Übelkeit, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen.  Und dann juckten mir die Augen und schwollen zu. Bindhautentzüngung, sagte Omma.

„Ich kann den ganzen Mist nicht mehr sehen!“ war meine Antwort.

Und weil ich mich als schlechte Pflegemutter fühlte, weil es mir so Bauchweh machte, aus der jetzigen Situation die Kinder zur Mama zurück zu geben, obwohl sich das auch irgendwie richtiger anfühlte, als das jetzt hier, machte ich einen Wochplan für die Mama.

Sie wollte die Kinder im zweiten Jahr ihrer Ausbildung zu sich nehmen und ich nahm den Best-Case mit Schulschluß so an, dass sie um zwei die Kinder von der Kita abholen konnte.

Es musste doch irgendwie eine Möglichkeit geben, das schlechte Gefühl los zu werden. Und ich plante den Morgen der Kinder und der Mama mit ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen und den Tag und den Nachmittag und kam ohne Lernen für die Schule schon auf einen 14-Stunden Tag, nachdem das Lernen für die Schule einsetzen musste.Es blieb keine Zeit für den neuen Freund und die anderen Freunde, sondern nur Zeit, um Aufgaben gerecht zu werden. Lediglich am Wochenende war Freiraum, der aber, so meine eigene Erfahrung, zur Aufarbeitung des Liegengebliebenen genutzt werden muss.

Das Gefühl wurde noch schlechter und die Augen noch dicker. Also rief ich die Familienhilfe an, sagte ihr, was ich so dachte, nur um die Augen wieder auf normal zu kriegen, was ich ihr auch sagte. Es war lästig, mir selbst beim Gucken im Weg zu sein.

„Ich möchte einfach nur ein gutes Gefühl bei der Rückführung haben. Nur einfach ein gutes Gefühl.“ Ein gutes Gefühl, dass es klappen kann. Mehr nicht.

Und dann kam der Umgang und Selma kriste.

Sie plante ganz genau. Sie wolle zur Mama zurück und Patty solle bei uns bleiben. Es ist, als ob das kleine Mädchen genau weiß, was bei der Mama los ist, weil es sich mit den Aussagen der Mama deckt.

Und sie will wissen, was jetzt los ist, wo die Mama wohnt, wo der Papa wohnt und, vor allem, wo ihre Katze ist.

Und wir haben, nachdem sie tagelang schimpfen und meckern musste, darüber gesprochen. Wie das war, als sie herkam. Warum sie nicht bei Papa bleiben konnte.

Und als ich ihr sagt, weil Papa trinkt, da arbeitete das Köpfchen und sie fing leise und unaufhörlich an zu weinen, wie wenn sie genau weiß, was das bedeutet.

Am Ende sagte sie jedoch eines ganz klar:

„Mama ist weggegangen, weil sie nicht mehr mit Papa zusammen sein wollte.“ Und auch das stimmt. Wir haben nicht darüber gesprochen, warum sie sie nicht mitgenommen hat, die Selma und die Patty. Es werden wohl noch viele dieser Gespräche dieser Art geführt werden müssen.