„Eigentlich will ich nicht bei Euch wohnen…“

Selma ist vier Jahre alt und sitzt auf dem Rücksitz meines Autos. Wir sind auf dem Rückweg des Sommerfestes für Pflege-Eltern.

*Pflege-Eltern nehmen solche Leute wie C. und micht nicht ernst. „DAS ist ja  nur Verwandtenpflege!“ ist ein oft fallender Satz. Abwertend, geringschätzig, ohne zu erahnen, wieviel Arbeit an sich selbst nötig ist, um zu differenzieren. Und das macht man nebenbei den ganzen Tag.*

Selma hatte nach einer Unterbrechung von sechs Wochen Umgang mit Mama.

Nein, Selma will nicht bei uns wohnen. Und es hilft auch nicht, dass ich ihr sage, dass das völlig normal ist, weil jeder lieber bei Mama und Papa wohnt.

Sie hat eine sog. regressive Phase, schwer, laut und auch handgreiflich den anderen gegenüber. Provokant, wie auch immer.

Patty hat ihre Fortschritte nicht völlig verloren, gibt aber wieder die Kopie von Selma und jeder Informatiker wäre verwundert, wie schnell ein Mensch Gesten und Worte kopieren kann, wenn er Patty neben irgendwem anders sieht.

Pflege-Eltern sein ist, so finde ich, keine einfache Hausnummer. Man weiß sehr genau, dass es richtiger ist, wenn Kinder bei ihren Eltern aufwachsen. Es fühlt sich einfach richtiger an. Ich kann uns schon als Pflege-Eltern bezeichnen, denn von zwei-dreimal sehen in den ersten Lebensjahren der Mädels kann man nicht von einer Oma-Opa-Enkel-Beziehung sprechen.

So. Und dann kommt also so ein Kind in die eigene Familie. Bei uns sind es zwei, also ist eine Familie in unsere Familie gezogen.

Und sie sind ganz anders als das eigene Kind. Nein, sie können mit Museumsbesuchen nichts anfangen, wollen lieber essen oder auf den Spielplatz, wo durchaus die Große mal die Kleine vom Gerüst schubst.

Und du arbeitest. An Dir selbst, mit Deiner Familie, mit der kleinen Familie, denn die einzige Chance ist, dass beide Familien sich aufeinander zu bewegen. Auch meine Familie, die mir da schwerfällig wie ein Ozeandampfer vorkommt, auf die kleine Familie, die bei uns einzgezogen ist.

„Eigentlich will ich gar nicht bei Euch wohnen.“ Ganz freundlich, wohlwollend kommt das Stimmchen vom Rücksitz.

Und die Mädchen haben sich entwickelt. Selma kann sehr sanft sein. Sie steht nicht mehr morgens auf und durch das Haus schallt ihr „Oooooooomaaaaaaa.“ wie die Dauerschleife einer Lautsprecher-Ansage. Sie muss nicht mehr alle schlagen, anspucken, kneifen, treten, bestehlen.

Patty, das im silbentakt lautierende Kind, spricht ganze Sätze. Noch nicht ganz sauber, aber von dem Verdacht einer geistigen Behinderung ist sie erstmal meilenweit entfernt und kann im Regelkindergarten bleiben.

Es muss Platz sein für Entwicklung. Es muss einfach Platz sein. Weniger nicht.

Am Anfang der Pflegerei war ich der festen Überzeugung, ich könnte Rituale und Verhaltensweisen anlegen, die es der Mutter einfacher machen würden. Aber ich habe das Fachbuch an die Seite geschmissen, als ich gelesen habe, das Verhalten Beziehungsbezogen ist, was im Umkehrschluß bedeutet, die Mama muss, wenn die Kinder wieder bei ihr sind, daran arbeiten, dass sich deren Verhalten im Umgang mit ihr ändert.

Eine herbe Enttäuschung, diese Erkenntnis. Und weiter gemacht.

Und nun siehst Du, wie sich diese Kindern entwickeln. Selma malt, Patty spricht. Sie singen, sie tanzen und sind im Kindergarten. Ich gehe abends putzen, die Müllwerkerduschen und Toiletten, weil C. dann von der Arbeit zuhause ist und immer einer von uns da.

C.s Mutter sagte, dass diese Kinder ungeliebte Kinder sind, weil ihnen die elterliche Liebe fehlt. Ungeliebt würde ich nicht sagen, aber die Liebe von Mama und Papa kann gar keiner ersetzen.

Du lernst, dass die Krisen, die diese Kinder durchmachen, denen der Erwachsenen überhaupt nicht unähnlich sind und tröstest die Untröstlichen.

Und dann plant die Mama, dann und dann die Kinder wieder zu sich zu nehmen. Und obwohl in diesem einen Jahr ganz viel bei den Kindern passiert ist, ganz viel entwickelt ist, ist bei den Eltern nicht viel passiert. Also viel schon, aber nicht in die Richtung, in die es sollte, damit die Kinder wieder zu ihnen können.

Als das bei uns kam, hatte ich Bauchschmerzen. Ich konnte nicht essen, konnte nichts formulieren. Ich bin in das Gespräch gegangen und war so verzückt von der Entwicklung der beiden Mädchen und dann –  Bämm!

Aber sie ist die Mutter. Und ich fühlte mich schlecht, weil ich mich schlecht fühlte, die Mädels wieder zur Mutter zu geben. Ja. Sie plante das in einem Jahr, aber in einem Jahr, was da wohl sein würde? Aus der jetzigen Situation heraus – Übelkeit, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen.  Und dann juckten mir die Augen und schwollen zu. Bindhautentzüngung, sagte Omma.

„Ich kann den ganzen Mist nicht mehr sehen!“ war meine Antwort.

Und weil ich mich als schlechte Pflegemutter fühlte, weil es mir so Bauchweh machte, aus der jetzigen Situation die Kinder zur Mama zurück zu geben, obwohl sich das auch irgendwie richtiger anfühlte, als das jetzt hier, machte ich einen Wochplan für die Mama.

Sie wollte die Kinder im zweiten Jahr ihrer Ausbildung zu sich nehmen und ich nahm den Best-Case mit Schulschluß so an, dass sie um zwei die Kinder von der Kita abholen konnte.

Es musste doch irgendwie eine Möglichkeit geben, das schlechte Gefühl los zu werden. Und ich plante den Morgen der Kinder und der Mama mit ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen und den Tag und den Nachmittag und kam ohne Lernen für die Schule schon auf einen 14-Stunden Tag, nachdem das Lernen für die Schule einsetzen musste.Es blieb keine Zeit für den neuen Freund und die anderen Freunde, sondern nur Zeit, um Aufgaben gerecht zu werden. Lediglich am Wochenende war Freiraum, der aber, so meine eigene Erfahrung, zur Aufarbeitung des Liegengebliebenen genutzt werden muss.

Das Gefühl wurde noch schlechter und die Augen noch dicker. Also rief ich die Familienhilfe an, sagte ihr, was ich so dachte, nur um die Augen wieder auf normal zu kriegen, was ich ihr auch sagte. Es war lästig, mir selbst beim Gucken im Weg zu sein.

„Ich möchte einfach nur ein gutes Gefühl bei der Rückführung haben. Nur einfach ein gutes Gefühl.“ Ein gutes Gefühl, dass es klappen kann. Mehr nicht.

Und dann kam der Umgang und Selma kriste.

Sie plante ganz genau. Sie wolle zur Mama zurück und Patty solle bei uns bleiben. Es ist, als ob das kleine Mädchen genau weiß, was bei der Mama los ist, weil es sich mit den Aussagen der Mama deckt.

Und sie will wissen, was jetzt los ist, wo die Mama wohnt, wo der Papa wohnt und, vor allem, wo ihre Katze ist.

Und wir haben, nachdem sie tagelang schimpfen und meckern musste, darüber gesprochen. Wie das war, als sie herkam. Warum sie nicht bei Papa bleiben konnte.

Und als ich ihr sagt, weil Papa trinkt, da arbeitete das Köpfchen und sie fing leise und unaufhörlich an zu weinen, wie wenn sie genau weiß, was das bedeutet.

Am Ende sagte sie jedoch eines ganz klar:

„Mama ist weggegangen, weil sie nicht mehr mit Papa zusammen sein wollte.“ Und auch das stimmt. Wir haben nicht darüber gesprochen, warum sie sie nicht mitgenommen hat, die Selma und die Patty. Es werden wohl noch viele dieser Gespräche dieser Art geführt werden müssen.

 

 

 

 

 

Gar nicht so einfach II

Für unsere Familie steht der große Esstisch. Jeder hat dort seinen Platz und wenn der oder die betreffende nicht da ist, dann bleibt der Stuhl leer.  Wenn Besuch kommt, werden Stühle an den Tisch gestellt, Stühle, die sonst im Keller stehen und Omma hat einen Platz zwischen Groß E. und Klein E. auf einem guten Stuhl, wobei Groß E. und Klein E. , auch E. und e., sonst neben einander sitzen.

Wenn ein Kind geboren ist, ändert sich die Sitzordnung an dem Tisch zunächst nicht. Aber das Familiengefüge bricht auf. Jeder sucht an dem imaginären Familientisch einen neuen Platz. Deutlicher wird es, wenn zum Beispiel ein neuer Partner kommt. Es  dauert eine ganze Weile, bis alle wieder feste Plätze haben. Bis dahin sitzt der eine mal neben dem, dann wieder auf der anderen Seite des Tisches, dann mal am Kopfende…..aber irgendwann stehen die Plätze wieder fest und gut. Das dauert. DAS dauert richtig lange. Wenn ein Baby kommt, kann man davon ausgehen, dass es wenigstens ein Jahr dauert, bis das Gefüge wieder ist, was es war. Tragend, gewohnt, krisenbewältigend.

Und dann aufeinmal zieht ein kleiner Mensch bei Dir ein, der schon seine Vorerfahrungen hat, aber ganz vieles nicht in Worte fassen kann.  Und es ist nicht nur einer, sondern gleich zwei. Mit ihren Erfahrungen. An manchen Tage nennen sie mich Mama, an den Tagen nach den Besuchsregelungen bin ich Omi. Und Omi geht dann schon morgens an und endet erst nach dem Einschlafen. Sie stehen allein in einer völlig fremden Welt. Wir sind fremd. Das Haus ist fremd. Die Onkel und Tanten, mit denen sie jetzt leben müssen, sind fremd. Und Mama ist weg und Papa auch. Wobei Mama Papa im Moment verbietet, sie zu sehen, aber das wissen sie nicht.

Sie sind zu zweit hier in die Familie gekommen. Also eine Familie in die Familie. Anfangs haben sie tatsächlich in ihrer Sprache diskutiert. Nun dieskutieren sie mit uns.

Sie ecken an. Sie müssen den Nuckel zum Reden aus dem Mund nehmen, sie müssen Nase putzen, beim Essen am Tisch sitzen und Pudding gibt es erst, wenn wenigstens ein bischen vom Essen vorher gegessen worden ist. Egal, wie groß, laut und schrill das Nein des kleinen Menschen ist.

Wir haben an diesen freien Tagen in aller Eile für kleines Geld das obere Bad, auf das wir so stolz waren ( Ein zweites Badezimmer!) umgebaut und nun haben die beiden Mädel ein kleines Reich mit Tür. Und sie verstehen nicht, warum sie nicht auf den Betten springen dürfen, den Schrank nicht einfach ausräumen dürfen, ….alles ist einfach anders.

Und manchmal kommt die Mama. Aber nur, wenn der andere Opa sie fährt. Aber Letzteres wissen die kleinen Mädchen auch nicht.  Müssen sie auch nicht, finde ich.

Aber irgendwer erzählt ihnen bei den Besuchen wohl, das die Mama ja gar nicht mehr krank ist. Fräulein Galotti, die ältere der beiden, sagt das immer wieder und wartet darauf, zu Mama zurück zu können, die eigentlich im Moment nirgendwo wohnt. Mal hier, mal da schläft, und manchmal auch bei ihren Eltern. Und dann erklär mal einem kleinen Mädchen, dass es Krankheiten gibt, die man nicht sieht.  Die kein Fieber machen, keine sichtbare Narbe machen und keine Operation brauchen, aber doch da sind. Und das diese Krankheiten Zeit brauchen, um wieder gut zu werden…

Morgen fange ich an, in Teilzeit zu arbeiten. Meine Firma hat mich auf 25 Stunden pro Woche eingestellt und ich beginne mit Nacht. zwei Wochen arbeiten, die dritte Woche frei. Auch was Feines und ich habe meinen Fuß zu Vollzeit in der Tür. Wird gut tun, hier einfach nur mal raus zu sein.

Wie sagte C. heute? „Pflegekinder sind doch einfach. Wenn man das wirklich nicht schafft oder auch nicht mehr will, kann man sie einfach wieder abgeben.“

DAS machen wir nicht. Eigen Kinder kann man sich schließlich auch nicht aussuchen und muss sich mit denen  arrangieren. Wo kommen wir denn da hin?.